57
Ashling rollte im Bett zur Seite und zog das Telefon unter sich hervor. Seit vier Tagen schlief sie damit. Zum zigtausendsten Mal wählte sie Marcus‘ Nummer. Anrufbeantworter. Dann die Nummer von seiner Arbeit. Voicemail. Schließlich sein Mobiltelefon.
»Immer noch nichts?«, fragte Joy mitleidig, als sie und Ted sich auf Ashlings muffelndem Bett zurechtsetzten.
»Nein. Himmel, ich will ihn sprechen! Ich will einfach ein paar Sachen wissen.«
»Er ist ein feiger Hund. Geh hin zu seinem Büro! Belästige ihn bei seinen Shows. Das wär doch was«, begeisterte Joy sich. »Du tust so, als wolltest du applaudieren, und stattdessen störst du ihn mit Zwischenrufen. Du könntest ihn fertigmachen und schreien, dass er im Bett eine Niete ist und dass sein Pimmel -«
»- viel zu klein ist«, beendete Ashling müde den Satz für sie.
»Sommersprossig, wollte ich sagen, aber ›viel zu klein‹ geht auch«, sagte Joy.
»Nein. Nein, niemals. Beides kommt nicht in Frage.«
»Also vergiss das mit der Show. Aber warum gehst du nicht in sein Büro? Wenn du ihn zurückhaben willst, musst du um ihn kämpfen.«
»Ich weiß nicht, ob ich ihn zurückhaben will. Außerdem habe ich keine Chance. Nicht gegen Clodagh.«
»So schön ist sie auch nicht«, sagte Joy heftig.
Automatisch drehten sich ihrer beider Köpfe zu Ted um, der errötete. »So schön nicht«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Siehst du?«, sagte Ashling zu Joy. »Er findet sie schön.«
Als ein unbehagliches Schweigen sich auf sie senkte, sah Ashling sich nüchtern um. Seit Freitagnachmittag war sie in diesem Zimmer. Inzwischen war es Montagabend, und sie war nur hin und wieder aufgestanden, um zur Toilette zu gehen. Sie hatte die Absicht gehabt, sich auszuschlafen und den Schock zu überwinden und dann Marcus aufzusuchen und zu sehen, was zu retten war. Aber irgendwie war sie nicht aus dem Bett rausgekommen. Inzwischen gefiel es ihr da, und vielleicht würde sie einfach drin liegen bleiben.
Ihr leerer Blick fiel auf einen Stapel Papiertaschentücher. Alle unbenutzt. Warum weinte sie nicht? Die Traurigkeit, die sie in sich trug, war so groß, dass sie eigentlich ständig in Tränen aufgelöst sein müsste. Aber ihre Augen blieben trocken. Es gab nicht einmal eine Andeutung - kein Stocken in der Stimme, keinen Kloß in der Kehle, kein Ziehen in ihren Gesichtsmuskeln.
Dabei war sie nicht gefühllos. Wäre sie es doch nur.
Sie sprach langsam, mehr zu sich selbst als zu den anderen: »Ich frage mich dauernd, was ich falsch gemacht habe, und ich glaube, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe ihm zugehört, wenn er neue Sachen ausprobieren wollte. Ich bin zu allen seinen Shows gegangen. Fast allen, jedenfalls.« Und was war passiert, als sie einmal nicht gehen konnte? Er hatte sich ihre beste Freundin geschnappt. »Ich habe ihm zehnmal am Tag bestätigt, dass er der beste Komiker ist und alle anderen Scheiße sind.«
»Ich auch?«, fragte Ted verunsichert. »Findet er mich auch Scheiße?«
»Nein«, log Ashling. An dem Abend, als sie Marcus kennen lernte, hatte er sich begeistert über Ted geäußert, aber nur - das wurde ihr rückblickend klar -, weil er ihn nicht ernst nahm. Als es deutlich wurde, dass Ted eine kleine, aber treue Fangruppe hinter sich hatte, fing Marcus an, Ted schlechtzumachen. Da er genau wusste, dass Ashling keine üblen Beleidigungen erlauben würde, begnügte er sich mit Bemerkungen wie: »Nicht schlecht für Ted Mullins. Wir brauchen ein paar Leichtgewichte in dem Zirkus.« Als Ashling gewahr wurde, dass er Ted runter machte, war sie schon zu sehr in der Rolle der Gehilfin etabliert, um Einspruch dagegen zu erheben.
»Alles hat sich nur um Marcus Valentine gedreht«, bemerkte Joy. »Was ist er doch für ein mieser, egoistischer Scheißer.«
»So war es aber nicht. Es hat Spaß gemacht, ihm zu helfen. Wir waren uns nah, wir waren gute Freunde.« Das war es, was so weh tat. Aber er hatte eine kennen gelernt, die er lieber mochte. Das passierte ständig.
»Hast du gespürt, dass irgendwas in der Luft lag?«, fragte Joy. »War er irgendwie anders?«
Es tat Ashling weh, im Licht der Enthüllungen über die letzte Zeit nachzudenken, aber dann gab sie zu: »In den letzten Wochen, als ich so viel zu tun hatte, war er sehr nörgelig. Ich dachte, es läge daran, dass er mich vermisste. Wirklich!«
»Und waren die, ehm«, begann Joy in dem Versuch, die Frage vornehm zu formulieren, gab dann aber auf. »Habt ihr wie sonst gevögelt?«
Ted hielt sich die Ohren zu.
»Nein«, seufzte Ashling. »Es war weniger geworden. Ich dachte, das sei meine Schuld. Aber wir haben zusammen geschlafen, seit ich aus Cork zurückgekommen bin. Eine Zeitlang hat er also uns beide gevögelt. Wieso hat Clodagh das hingenommen?«, fragte sie, als wäre Clodagh eine Gestalt aus einer Seifenoper.
»Vielleicht wusste sie es nicht«, vermutete Joy. »Vielleicht hat er sie belogen. Oder vielleicht hat er dich benutzt, um sie dazu zu bewegen, dass sie Dylan verlässt.«
Zu spät ging Joy auf, wie grausam sich das anhörte. »Es tut mir Leid«, sagte sie bedrückt. »Das war unbedacht gesprochen ... Und was ist mit Clodagh? Wenn ich zwischen Marcus und Dylan zu wählen hätte, dann wüsste ich aber, welchen ich nehmen würde! Oh, Mist. Tut mir Leid. Magst du vielleicht ein paar Chips?«
Ashling schüttelte den Kopf.
»Vielleicht was anderes? Schokolade? Popcorn? Was du willst.« Joy zeigte auf die große Auswahl auf Ashlings Kommode.
»Nein, und bringt mir nichts Neues.«
»Hast du vor, jemals wieder aufzustehen?«
»Nein«, sagte Ashling. »Ich fühle mich so ... gedemütigt.«
»Gib ihnen nicht diese Genugtuung«, sagte Joy entschieden.
»Ich habe das Gefühl, dass sie mich alle hassen.«
»Warum? Du hast doch gar nichts gemacht!«
»Ich habe das Gefühl, dass die ganze Welt gegen mich ist und ich nirgendwo in Sicherheit bin. Und ich bin so traurig«, fügte sie hinzu.
»Das ist doch kein Wunder.«
»Nein, ich bin traurig aus den falschen Gründen. Ich muss dauernd an Boo denken und wie traurig das ist. Und an all die anderen Obdachlosen, die frieren und Hunger haben. Der Verlust der Würde, es ist so entmenschlichend...«
Sie brach ab. Sie hatte gesehen, wie Ted und Joy sich mit Blicken Jetzt ist sie völlig übergeschnappt signalisierten.
Sie dachten, der Schock hätte etwas bei ihr durcheinandergebracht. Wie konnte sie an Obdachlose denken, an Menschen, die sie nicht kannte, wenn sich in ihrem eigenen Leben eine solche Katastrophe ereignete?
Sie verstanden das nicht. Es gab einen Menschen, der es verstehen würde.
Wenn sie nicht so katatonisch gewesen wäre, hätte sie sich vor Entsetzen geschüttelt. So war es für meine Mutter.
Und erst dann stellte sie die schockierende Verbindung her. Verdammt, ich glaube, das hier ist ein Nervenzusammenbruch.
Blumen hin oder her - als Lisa in die Redaktion kam und Jack sah, war sie plötzlich doch wütend, dass er sie abgewiesen hatte.
»Wie geht es Ihnen?« Er sah sie aufmerksam an.
»Gut«, sagte sie leicht gereizt.
»Wir haben Sie vermisst.« Seine Augen blickten freundlich jedoch nicht mitleidig -, und ihr Zorn verpuffte. Sie benahm sich albern.
»Möchten Sie meinen Hautpflege-Artikel lesen?« Er reichte ihr einen Ausdruck, in dem er erklärte, dass die Aveda-Sachen »gut« waren, dass die Produkte von Kiehl »gut« waren und dass die von Issey Miyake auch »gut« waren.
Lisa ließ das Blatt auf den Schreibtisch flattern, zwinkerte ihm freundlich zu und sagte: »Bleiben Sie lieber bei Ihrem alten Job.«
Es musste echte Panik in der Redaktion geherrscht haben, wenn jemand wie Jack sich an einem Artikel versuchte.
»Und Ashling ist noch krank?« Sie konnte sich eine kleine Selbstgefälligkeit nicht verkneifen. Ihr stand immerhin eine Scheidung bevor, und sie war trotzdem zur Arbeit gekommen.
Erst jetzt, da sie in der Redaktion war, merkte sie, wie viel Trubel um die Zeitschrift gemacht wurde, und erkannte, dass all ihre Anstrengungen, das Projekt zum Erfolg zu bringen, Früchte getragen hatten. Während sie im Bett gelegen hatte, überzeugt, die größte Versagerin aller Zeiten zu sein, war sie zu einer Art Star geworden - natürlich nur in Irland, aber immerhin.
Sie hatte ein Stellenangebot von einer konkurrierenden irischen Zeitschrift bekommen, und mehrere Journalisten hatten angerufen. Manche wollten ein richtiges Interview mit ihr machen, andere hatten vor, sie für Füllartikel zu benutzen, wie »Meine besten Ferien« und »Mein Traummann«.
Sie gestattete sich ein kleines warmes Gefühl, aber wichtiger als der Erfolg der Zeitschrift war das kommende Wochenende mit Oliver. Sie musste absolut umwerfend aussehen - sie würde eine umfassende Suche nach fantastischen Sachen zum Anziehen in die Wege leiten und sich die Haare machen lassen. Und ihre Beine. Bis dahin würde sie natürlich keinen Bissen zu sich nehmen, damit sie normal essen könnte, wenn er da war...
»Die Sunday Times am Apparat«, sagte Trix und wedelte mit dem Hörer vor Lisa herum. »Sie wollen wissen, welche Farbe dein Slip hat.«
»Weiß«, sagte Lisa zerstreut, und Kelvin hätte fast einen Orgasmus gehabt.
»Das war ein Witz«, sagte Trix. »Sie wollen was über deine Haarpflege wissen ...«
Aber Lisa hörte nicht zu. Sie hatte die Nummer der Pressestelle von DKNY in London gewählt. »Wir wollen in unserer Weihnachtsausgabe Ihre Wintermode vorstellen, aber wir müssen die Sachen bis Freitag haben.«
»Lisa, können wir über die Mercedes-Nachfolge sprechen?«, fragte Jack.
Dass Mercedes sie im Stich gelassen hatte, versetzte sie erneut in Wut, die sie erst einmal bezähmen musste. »Trix, ruf bei Ghost, Fendi, Prada, Paul Smith und Gucci an! Sag ihnen, dass wir im Dezember ein paar Seiten über sie bringen, aber nur, wenn sie die Sachen bis Freitag schicken können. Kommen Sie«, sagte sie und war vor Jack in seinem Büro.
»Die fuhrt was im Schilde«, sagte Trix - in die Luft hinein. Sie vermisste Ashling und Mercedes. Es machte keinen Spaß, wenn man niemanden zum Spielen hatte.
Jack und Lisa sahen sich die vier unaufgefordert eingesandten Bewerbungen für die Stelle der Moderedakteurin an und beschlossen, alle vier zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
»Und wenn die nichts taugen, dann schalten wir eine Anzeige«, sagte Lisa. »Kann ich Sie was fragen? Wie finde ich einen Anwalt?«
Jack dachte einen Moment lang nach. »Wir geben unsere Sachen immer an dasselbe Anwaltsbüro. Sie könnten sich dorthin wenden. Und wenn die Anwälte Ihre, ehm, Angelegenheit nicht übernehmen können, geben sie Ihnen sicherlich eine Adresse.«
»Danke.«
»Und wenn ich Ihnen helfen kann, dann sagen Sie es nur«, versprach Jack.
Lisa musterte ihn misstrauisch. Es ließ sich nicht leugnen: Sie mochte ihn. Er bot ihr auch weiterhin die herzliche, unterstützende Freundschaft an, wie seit dem Tag, als sie in seinem Büro geweint hatte, weil sie nicht zu den Modeschauen gehen konnte. Er konnte nichts dafür, dass sie etwas hineingedeutet hatte.
Am Dienstagnachmittag klingelte Ashlings Telefon. Sie riss den Hörer hoch. Lass es Marcus sein, betete sie, lass es Marcus sein!
Aber das Herz wurde ihr schwer, als sie eine Frauenstimme hörte. Es war ihre Mutter. »Ashling, Liebes, wir wollten gern hören, wie die Startparty war, und da habe ich bei deiner Arbeit angerufen. Die haben mir gesagt, dass du nicht in der Redaktion bist. Was ist los - bist du krank?«
»Nein.«
»Was denn?«
»Ich bin ...« Ashling zögerte vor dem Tabuwort, dann gab sie mit Angst und Erleichterung nach. »Ich bin deprimiert.«
Monica wusste sofort, dass Ashling nicht »deprimiert« meinte im Sinne von »Ich bin deprimiert, weil ich gestern vergessen habe, den Film aufzunehmen«. Ashling hatte immer darauf geachtet, dass sie nie, niemals das Wort Depression in Hinblick auf sich selbst benutzte. Dies hier war ernst. Die Geschichte wiederholte sich.
»Mein Freund hat eine Affäre mit Clodagh«, erklärte Ashling schwach.
»Clodagh Nugent?« Monica klang erzürnt.
»Seit zehn Jahren heißt sie Clodagh Kelly. Aber das ist ja nicht alles.«
Monica überlegte. »Wie schlecht geht es dir?«
»Ich liege im Bett. Es ist der fünfte Tag. Ich habe vorerst nicht vor aufzustehen.«
»Isst du?«
»Nein.«
»Wäschst du dich?«
»Nein.«
»Denkst du an Selbstmord?«
»Noch nicht.« Das kam also noch auf sie zu.
»Ich setze mich morgen in den Zug, Liebes, und kümmere mich eine Weile um dich.«
Sie wartete darauf, dass Ashling sagte, sie solle sich auf keinen Fall unterstehen, wie sie es sonst immer tat, aber stattdessen sagte Ashling: »Gut.«
Die Angst legte sich wie eine kalte Klammer um Monicas Herz. Es musste Ashling sehr schlecht gehen.
»Mach dir keine Sorgen, Liebes! Wir finden jemanden, der dir helfen kann. Ich werde nicht zulassen, dass du das Gleiche durchmachst wie ich«, versprach Monica heftig. »Heute ist das alles anders.«
»Weniger Stigma«, sagte Ashling mit kalten Lippen.
»Bessere Medikamente«, entgegnete Monica.
Am Dienstagabend versuchten Joy und Ted Ashling mit frischer Schokolade und neuen Zeitschriften aufzumuntern, als es an der Tür klingelte. Sie alle erstarrten.
Zum ersten Mal seit Tagen hellte Ashlings teilnahmsloses Gesicht sich auf. »Vielleicht ist es Marcus!«
»Ich gehe und sag ihm, er soll sich verpissen.« Joy war schon auf dem Weg zur Tür.
»Nein«, widersprach Ashling heftig. »Nein, ich will mit ihm sprechen.«
Sekunden später war Joy wieder da.
»Es ist nicht Marcus...«, zischte sie.
Ashling sank sofort wieder in ihren Sumpf zurück.
»... es ist Divine Jack. Und er macht seinem Namen alle Ehre.«
Dieser überraschende Besuch holte Ashling halb aus ihrem betäubten Zustand heraus. Was wollte er? Wollte er ihr kündigen, weil sie nicht zur Arbeit kam?
»Wasch dich um Himmels willen!« bedrängte Joy sie. »Du riechst.«
»Ich kann nicht«, sagte Ashling mit einem tiefen Seufzer. Er kam aus solcher Tiefe, dass Joy wusste, es war vergebliche Liebesmüh. Als Kompromiss bestand sie darauf, dass Ashling sich einen frischen Schlafanzug anzog, sich die Haare kämmte und die Zähne putzte. Dann nahm Joy zwei Parfumflakons zur Hand und fragte: »Happy oder OuP.« Dann beschloss sie: »Happy. Bauen wir auf die Macht der Suggestion.«
Sie besprühte Ashling von oben bis unten mit Happy und schob sie dann, als wäre sie eine Aufziehpuppe, in Richtung Wohnzimmer. »Geh schon!«
Jack saß auf ihrem blauen Sofa, seine Hände hingen zwischen den Knien herab. Es war ein bemerkenswerter Anblick. Trotz ihrer Depression bohrte sich dieser Gedanke durch ihre Dumpfheit. Jack gehörte zu der Welt der Arbeit, aber hier war er und ließ ihre Wohnung noch kleiner erscheinen, als sie ohnehin schon war.
Mit seinem dunklen Anzug, dem unordentlichen Haar und der schiefsitzenden Krawatte sah er sorgenerfüllt und sehr beschäftigt aus. Sie blieb in der Tür stehen und beobachtete ihn bei einem intensiven Gedankenaustausch mit dem Ahornlaminat-Fußboden. Dann legte er den Kopf auf die Seite, sah auf und lächelte.
Im Zimmer wurde es heller, als er aufstand.
»Hallo«, sagte Ashling, »es tut mir Leid, dass ich heute und gestern nicht zur Arbeit gekommen bin.«
»Ich wollte nur nach Ihnen sehen - ich will Sie gar nicht bereden, dass Sie wieder zur Arbeit kommen.«
Dann fiel Ashling ein, dass er unerwartet sanft und freundlich gewesen war, nachdem Dylan seine schreckliche Nachricht überbracht hatte.
»Ich versuche, morgen zu kommen«, schlug sie vor. Das war genauso unwahrscheinlich, wie dass sie den Kilimandscharo besteigen würde.
»Warum bleiben Sie diese Woche nicht zu Hause?«, schlug er vor. »Versuchen Sie, nächsten Montag wieder zur Arbeit zu kommen.«
»Oh gut, danke.« Die Erleichterung, nicht sofort wieder der Welt gegenübertreten zu müssen, war so groß, dass sie gleich einverstanden war. »Meine Mutter kommt für ein paar Tage. Wahrscheinlich wird das bewirken, dass ich wieder zur Arbeit kommen möchte, wenn schon sonst nichts.«
»Ach ja?« Jack lächelte verständnisvoll. »Das müssen Sie mir mal erzählen.«
»Ja.« Ashling konnte sich nicht vorstellen, dass sie genügend Energie haben würde, um ihm auch nur einen guten Tag zu wünschen.
»Und wie geht es Ihnen?«, fragte er.
Sie zögerte. Es war nicht unbedingt eine Frage, die man mit seinem Chef erörterte, aber Herr im Himmel, was machte es schon? Was war noch wichtig? »Ich bin sehr traurig.«
»Das war zu erwarten. Das Ende einer Beziehung, der Verlust einer Freundschaft.«
»Aber es ist mehr als nur das.« Sie versuchte, ihren überwältigenden Kummer in Worte zu fassen. »Ich bin traurig wegen der ganzen Welt.«
Sie sah Jack an. Dachte er, sie sei ausgeflippt?
»Sprechen Sie weiter«, sagte er sanft.
»Ich kann nur das Traurige sehen. Und es ist überall. Wir alle wandern gramgebeugt durch die Welt, die ganze Menschheit.«
»Weltschmerz«, sagte er.
»Gesundheit«, sagte sie zerstreut.
»Nein.« Er lachte leise. »Weltschmerz. Das deutsche Wort dafür. Für Ihr Gefühl.«
»Es gibt ein Wort dafür?«
Sie wusste, dass sie nicht der erste Mensch war, der diese Gefühle hatte. Ihre Mutter hatte sie auch gehabt. Aber wenn sogar ein Wort erfunden worden war, um das Gefühl zu beschreiben, mussten viele andere auch so gefühlt haben. Das war ein Trost.
Jack raschelte mit einer weißen Papiertüte. »Ich, eh, habe Ihnen etwas mitgebracht.«
»Was? Papiertücher? Ich könnte ein Geschäft aufmachen. Oder Weintrauben? Ich bin nicht krank, nur... gedemütigt.«
»Nein, es ist... also, es ist Sushi.«
Sie sah ihn beleidigt an. »Wollen Sie sich über mich lustig machen?«
»Nein! Es hat Sie aber interessiert, als wir es in der Redaktion hatten.« Als Ashling nichts sagte, sprach er weiter: »Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht schmecken. Es ist nichts Bedrohliches dabei, nicht einmal roher Fisch. Das meiste ist vegetarisch - Salatgurke, Avocado, ein bisschen Krabbenfleisch. Eine Sushi-für-Anfänger-Box. Ich kann es Ihnen erklären ...«
Aber bei Ashlings misstrauischem Gesichtsausdruck gab er den Versuch auf. »Ehm, also gut, ich lasse sie Ihnen hier. Gute Besserung. Und bis Montag.«
Nachdem er fort war, kamen Ted und Joy ins Wohnzimmer.
»Was ist in der Tüte da?«
»Sushi.«
»Sushi? Komisch, so was mitzubringen.«
Argwöhnisch umkreisten sie die Papiertüte, als wäre sie radioaktiv.
»Sollen wir mal reingucken?«, fragte Ted schließlich.
Als Ashling sagte: »Meinetwegen«, holte er die lackierte Schachtel heraus und starrte fasziniert auf die kleinen Reispäckchen, die in hübschen Reihen angeordnet waren.
»So hatte ich mir das gar nicht vorgestellt«, sagte Joy.
»Und was ist das alles hier?« Ted zeigte auf ein Schälchen.
»Sojasoße«, sagte Ashling gleichgültig.
»Und das?« Ted zog den Deckel von einem kleinen Styropor-Behälter.
»Eingelegter Ingwer.«
»Und das hier?« Er zeigte auf den Klumpen grüner Knete.
»Ich weiß nicht mehr, wie es heißt«, sagte Ashling missmutig, »aber es ist scharf.«
Nachdem sie die Dinge noch eine Weile lang misstrauisch beäugt hatten, packte Ted den Stier bei den Hörnern. »Ich versuche eins.«
Ashling zuckte die Achseln.
»Das hier sieht aus wie Salatgurke.« Er beförderte das Röllchen in seinen Mund. »Jetzt reinige ich meinen Gaumen mit einer Scheibe von dem eingelegten Ingwer, und dann -«
»So macht man das nicht«, sagte Ashling gereizt.
»Dann zeig es mir.«